Von Sabine Mack
Interview mit Verena Arps-Roelle, Gründerin der Initiative „act & protect® – GEGEN SEXUALISIERTE GEWALT“
Website: https://actandprotect.de
LinkedIn: https://www.linkedin.com/in/verena-arps-roelle-b82844204
Nachtrennungsgewalt ist eine Form von Gewalt, die häufig genau dann beginnt, wenn Betroffene – oftmals sind es Frauen – die Entscheidung treffen, sich aus einer toxischen oder gewaltvollen Beziehung zu lösen. Im Durchschnitt brauchen Betroffene sieben Anläufe, bis sie endlich den Mut und die Ressourcen haben, sich endgültig zu trennen – in der Hoffnung auf Sicherheit, auf Ruhe, auf ein selbstbestimmtes Leben. Doch statt Schutz erleben viele genau dann die nächste Eskalationsstufe.Denn mit dem/der Partner*in verlassen sie nicht nur eine Person, sondern auch ein ganzes System.
Verena, in deinem neuen Buch „Zwischen den Zeilen" beschäftigst du dich mit den verschiedenen Formen von Gewalt, denen gerade Frauen bzw. queere Personen ausgesetzt sind, u. a. mit Nachtrennungsgewalt. Kannst du uns erklären, was hinter dem Phänomen Nachtrennungsgewalt steckt?
„Ein System, das auf Kontrolle, Abhängigkeit und Machtgefälle basiert.Und genau dieses System – das durch die Trennung ins Wanken gerät – wird in einem solchen Falle mit allen Mitteln verteidigt. Psychische Gewalt, soziale Ausgrenzung, Rufmord, juristische Manipulation, finanzielle Kontrolle und körperliche Übergriffe bis hin zu Tötungen gehören dazu. Nicht, weil die Trennung für die gewaltausübende Person „so schwer zu verkraften“ ist – sondern, weil Machtverlust in patriarchalen Strukturen oft als persönliche Kränkung empfunden wird. Das Gefährliche ist, dass sie oft unsichtbar bleibt. Sie zeigt sich nicht immer in Form von blauen Flecken – doch sie hinterlässt immer tiefe emotionale Verletzungen. Nachtrennungsgewalt gilt in der Kriminalistik, in der Opferforschung und bei spezialisierten Hilfsorganisationen als fortgesetzte häusliche Gewalt…“
Wer ist betroffen?
Nachtrennungsgewalt kann jeden und jede treffen, unabhängig von Alter, Familienstand, Biografie und Lebensweise. Laut dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend erlebt jede dritte Frau in Deutschland mindestens einmal in ihrem Leben körperliche und/oder sexualisierte Gewalt – häufig durch einen aktuellen oder ehemaligen Partner. Besonders alarmierend ist, dass der gefährlichste Zeitpunkt für betroffene Frauen nach der Trennung ist. Wenn die Kontrolle entgleitet, eskaliert die Gewalt. Frauenhäuser berichten, dass über 60 Prozent der Bewohnerinnen direkt vor oder nach einer Trennung Zuflucht suchen. Jedes Jahr werden in Deutschland durchschnittlich 120 bis 150 Frauen durch ihren (Ex-)Partner getötet – das sind zwei bis drei Femizide pro Woche. In etwa 80 Prozent der Fälle von versuchten oder vollendeten Tötungen innerhalb einer Paarbeziehung ist das Opfer weiblich und der Täter männlich. Und ja, auch Männer können betroffen sein – vor allem psychisch, ökonomisch oder im Rahmen von Elternkonflikten...“
Wie äußert sich Nachtrennungsgewalt konkret?
„Die Gewalt nach der Trennung war entweder bereits vorher im Leben der Betroffenen oder sie schleicht sich nach und nach ein. Sie zeigt sich bspw. in abwertenden Bemerkungen über die Mutterrolle – gezielt platziert, am liebsten vor den Kindern, um doppelt zu treffen und zu verletzen.
Auch psychische Gewalt in Form von Schuldumkehr, Gaslighting oder Einschüchterung gehört zu Nachtrennungsgewalt, ebenso wie digitale Gewalt – Stalking, Bedrohungen, das permanente Nachstellen im Alltag oder in sozialen Medien. Jede Nachricht, jeder unerwartete Anruf, jede plötzliche Erscheinung vor der Wohnungstür wird zur Bedrohung und zur Wiederholung eines Machtmissbrauchs, der längst hätte aufhören müssen. Ein weiteres häufig eingesetztes Mittel ist die ökonomische Gewalt: Unterhalt wird bewusst zurückgehalten – nicht, weil es finanziell nicht möglich wäre, sondern um Druck aufzubauen, Kontrolle zu behalten und Abhängigkeiten zu festigen. Hinzu kommt Eltern-Kind-Entfremdung, oft auch „Parental Alienation“ genannt, die Kinder in Loyalitätskonflikte bringt und die Bindung zum anderen Elternteil zerstört. Auch der Missbrauch juristischer Prozesse, „Legal Abuse“ genannt, ist Teil dieser Dynamik. Und Nachtrennungsgewalt endet nicht vor dem Gerichtssaal. Sie greift tief in das soziale Leben der Betroffenen ein. Durch gezielte Verleumdungen und Rufmord in Schule, Nachbarschaft, im Beruf oder im erweiterten Familien- und Bekanntenkreis wird Vertrauen systematisch zerstört. Freundschaften zerbrechen und Netzwerke brechen weg. Alle Formen von Nachtrennungsgewalt dienen dazu, die Betroffenen kleinzuhalten, zu erschöpfen und mürbe zu machen. Für Außenstehende ist das oft schwer zu fassen. Deshalb sehen viele Menschen im Umfeld weg – aus Unsicherheit, aus Angst, sich ungewollt einzumischen, aus Sorge, jemandem Unrecht zu tun oder „Partei zu ergreifen“. Dabei ist genau fatal…
Welche Folgen hat das für die Betroffenen?
„Kurzfristig leiden Betroffene oft unter Angst, Schlaflosigkeit, Dauerstress und einem Gefühl des Ausgeliefertseins. Denn viele Betroffene leben in ständiger Alarmbereitschaft – sie warten auf die nächste Nachricht, den nächsten Gerichtstermin, das nächste Auftauchen vor der Tür. Sie können kaum abschalten, kaum regenerieren, weil sie sich emotional, mental und organisatorisch im Dauerkrisenmodus befinden. Der Körper reagiert mit Erschöpfung, Konzentrationsstörungen, Herzrasen oder sogar Panikattacken. Häufig entstehen psychosomatische Beschwerden, depressive Verstimmungen oder Angststörungen…“
Was kann ich als Einzelperson tun, um zu helfen?
„Hinsehen, zuhören, ernst nehmen.
Wenn dir auffällt, dass eine Freundin plötzlich still wird, Termine absagt, sich verändert – frag nach. Ohne Druck, doch mit ehrlichem Interesse. Signalisiere: „Du bist nicht allein. Es gibt Hilfe.“ Teile Informationen zu Anlaufstellen, Hilfeportalen oder dem Thema häusliche und nachtrennungsbezogene Gewalt – ohne zu drängen oder Entscheidungen abzunehmen.
Denn oft kämpfen Betroffene innerlich längst mit Schuldgefühlen, Angst, Scham oder der Sorge, dass ihnen nicht geglaubt wird. Viele haben jahrelang gelernt, ihre Bedürfnisse zu unterdrücken – und brauchen vor allem eines: Unterstützung und Respekt für ihr Tempo.“
Was ist essenziell, wenn man selbst betroffen ist?
„Sich selbst glauben und dem eigenen Gefühl vertrauen: Wenn sich etwas falsch anfühlt, ist es das oft auch. Hilfe holen – auch wenn es schwerfällt. Ob bei Beratungsstellen, Frauenhäusern, spezialisierten Anwält:innen – niemand muss das alleine durchstehen. Und vor allen Dingen: Lasst euch nicht einreden, dass ihr übertreibt. Euer Gefühl braucht keine Rechtfertigung. Und euer Schutz steht an erster Stelle.“
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