Neue Musik chinesischer Top-Komponisten im Wiener Konzerthaus
Dieses Event vom 20. Oktober 2024 wird in die Wiener Konzertgeschichte eingehen.
Das Konzert „Chinas Klänge der Gegenwart hören“ mit Uraufführungen neuer Orchesterwerke von Kompositionslehrern des Central Conservatory of Music aus Peking unter der Leitung von YU Feng darf als historischer Meilenstein in der Rezeption chinesischer Musik in der Musikhauptstadt Wien gelten.
Für alle an „Außereuropäischer Musik“ Interessierten und natürlich für die in Wien lebenden Chinesinnen und Chinesen war es ein „Pflichtkonzert“. Um reine Unterhaltung und bloß um einen „netten Abend“ ging es dabei allerdings nicht. Die sechs uraufgeführten Werke – sie entstanden alle heuer - waren hoch expressiv, sprich dissonant, und forderten gehörig das Publikum.
JIA Guoping „Guan Canghai“
Das Konzert beginnt mit einem Paukenschlag der großen Trommel, der in eine stark dissonante Klangfläche aller Orchestergruppen übergeht. Die Symphonische Dichtung von JIA Guoping trägt den programmatischen Titel „Blick auf das Meer“. Doch es ist kein verträumter Blick auf das Meer, vielmehr die Verbeugung vor der Urgewalt des Meeres, passend zu dem Gedicht „Das Meer“, gedichtet von CAO Cao (155-220), das dem symphonischen Werk als programmatisches Narrativ vorangestellt ist. Entsprechend der Textzeile „I come to view the boundless ocean” – die Übersetzung dieses Textes aus dem Chinesischen stammt von XU Yuanchong – entfaltet JIA Guoping eine orchestrale Klangfülle, die tatsächlich „boundless“, nämlich grenzenlos anmutet.
CHANG Ping „Symphonie: Gedanke 2024“
Rasende Trompeten-Repetitionen dominieren dieses expressive Werk. Holzbläser werden obsessiv eingesetzt. Dramatische Musik pur, geeignet für jedes Finale eines klassischen Kino-Blockbusters. Kleine Motive bauen sich in Kaskaden von den Holzbläsern bis zu den Streichern auf. Präzise mit Beckentremolo abgestimmte Paukenwirbel treiben die Spannung auf den Höhepunkt. Glückliche Entspannung dann gelegentlich durch Hammerschläge auf die Röhrenglocken. CHANG Ping hat in Berlin studiert und dort die Kompositionstechniken der Europäische Moderne studiert.
YE Xiaogang „Die Wollmispel in fünf Farben“
Genauso stellt man sich im Westen die chinesische Musik vor: Viel Pentatonik, heitere Orchesterfarben. Violinen, abwechselnd mit nachdenklichen Soli von Oboe und Flöte. Wunderschön: der Zuhörer imaginiert Naturbilder, Wiesen und Wasserfall, eine bukolische Landschaft des Friedens also. Irgendwie ein Pepperland, wie im Beatles-Film „Yellow Submarine“. YE Xiaogang, Professor der Kompositionsabteilung des Konservatoriums versteht sein Handwerk. Klassisches Handwerk der programmatischen Symphonik. Großer Applaus.
GUO Wenjing “Frühlingsaussicht, Konzert für Guzheng und Orchester Op.77”
Mit seinen Opern gehört GUO Wenjing zu den chinesischen Komponisten mit Weltgeltung. Humorvoll charakterisiert ihn die New York Times: „The only Chinese composer who has never lived abroad but established an international reputation.”
Der Symphonischen Dichtung „Frühlingsaussicht“ ist programmatisch das gleichnamige Gedicht des Dichters DU Fu (712-770) vorangestellt. In der Übersetzung von XU Yuanchong heißt die erste Zeile: „On war-torn land streams flow and mountains stand, in towns unquiet grass and weeds run riot.“ Alles beginnt lieblich wird dann aber stark dramatisch. HU Xuyuan, die Solistin, in einem wunderschönen weißen Kleid, hat alle Hände zu tun auf ihrem Instrument. Sie meistert virtuos die anspruchsvolle Aufgabe, einerseits die leise Stimme zu sein, andererseits aber auch sich gegen die großen, oft monophonen, also massiv-einstimmigen Orchestersequenzen durchsetzen zu können. Besonders bemerkenswert sind die Bendings, also das Ziehen der Saiten des Instruments. Ein Fest für die Ohren. Wer das hört, träumt sich sofort nach China. Dissonante Einwürfe konterkarieren die liebevolle Einsamkeit der Solistin auf der Bühne, die sich im Wettstreit mit einem vollen Orchester befindet. Aber ich denke, dieses Duell hat die Solistin HU Xuyuan für sich entschieden. Eine geniale Komposition von YE Xiaogang im Stil der gemäßigten Moderne, perfekte Fusion-Music.
In Zukunft wäre allerdings eine Verstärkung des Instruments der Solistin durch Tonabnehmer und Verstärker zuträglich. Dadurch wäre das Oberton-Spektrum des Instrumentes im Konzertsaal besser zu hören.
HAO Weiya „Der Zug ins Schneeland“
Der Komponist kann ein sehr breit gefächertes Repertoire vorweisen: Konzerte für chinesische Instrumente, Musik für die Bühne, darunter ein Musical mit dem Titel „Mulan“, das Ballett „Princess of Tang“, das seine Premiere in den USA erlebte, sowie Filmmusik für TV und Kino. Im Jahr 2010 erhielt er den Kompositionsauftrag die Musik für die World Expo in Shanghai zu schreiben.
HAO Weiya erklärt im Programmheft: „I`ve always had a dream of becoming a train driver, wearing a greasy dark blue uniform and a Lenin cap, with a white woolen towel around my neck. I imagine myself leaning against the train engine`s window, making wiping motions amidst the howling whistle…That pitch-black train passes through the long tunnels of the Qinling Mountains in winter, leading to my hometown in Guanzhong.”
QIN Wenchen „Guang ling san”
Der Vizepräsident des Central Conservatory of Music – er studierte unter anderem in der Klasse von Nicholas A. Huber in Essen (Deutschland) – ist Gewinner internationaler Auszeichnungen. Seine Kompositionen, darunter Werke für Kammermusik, werden von internationalen Orchestern aufgeführt, von Klassik-Radiostationen gespielt und exklusiv vom Sikorski Musikverlag (Deutschland) veröffentlicht. 2010/2011 entstehen seine „30 Stücke für chinesische Instrumente“.
Die Dirigentin CHEN Lin
Die Dirigentin CHEN Lin ist mit ihrer stets sehr klaren Schlagtechnik bewundernswert. Als Chefin der Abteilung für Dirigieren am Central Conservatory of Music in Peking hat sie bei diesem Konzert in Wien eine schwere Aufgabe zu erfüllen, schließlich sind es allesamt Uraufführungen. Mit kraftvoller Kondition führt sie das Orchester. Dazu gehört auch eine tänzerische Anmut, die wir so, von westlichen Dirigenten und Dirigentinnen nicht kennen. Ihre Meriten, aufgelistet im Programmheft, ergeben eine lange Erfolgsliste.
Ausblick: Was kommt als nächstes?
Selten sieht man in Konzerten der sogenannten Ernsten Musik einen derartig bunten Mix aller Altersgruppen, von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und älteren Semestern. Dank der hohen Aufführungsqualität des brillant spielenden Orchesters ging das Publikum von der ersten bis zur letzten Minute gut mit und spendete lange anhaltenden Applaus mit stehenden Ovationen zum Schluss.
In diesem Konzert hat wirklich viel gestimmt. Das großartige Dirigat von CHEN Lin, das wunderbar intonierende Orchester - besonders hervorzuheben die Blechbläser, die einen mächtigen Sound lieferten – und die Solisten mit den chinesischen Instrumenten.
Die Komponisten zeigen, dass sie vieles können: Klangflächen, stehend, bewegt, dissonante Kaskaden in den Holzbläsern, lyrische Stellen mit Harfe, sowie Perkussionseffekte und starke Pauken-Tremoli.
Alles mächtig. Alles stark.
Bloß eines gab es nicht: Es fehlte der Parameter „Melodie“. Vielleicht wird es ja beim nächsten Mal eine Melange geben aus Pop-Melodien, starkem Orchester, Electronic und ein paar großen Sängern und Sängerinnen, die der Welt vorführen, dass der wahre Ernst der Musik erst mit der Heiterkeit beginnt.
Die Heiterkeit hat nämlich bei diesem Konzert ziemlich gefehlt.
Vielleicht beim nächsten Mal.
Text: Gottfried Kinsky-Weinfurter
Bild: Dirigentin Chen Lin, Foto/© Central Conservatory of Music in China (CCOM)