»Jin*, Jîyan, Azadî«

 


Die Parole "Jin*, Jîyan, Azadî" ("Frau*, Leben, Freiheit") stammt von kurdischen Frauen. Seit wann gibt es sie und was bedeutet diese feministische Parole?
Zeynep Arslan: Diese Parole hat seine Wurzeln in den 1980er Jahren der kurdischen Frauenbewegung. Die kurdischen Frauen, die sich nicht nur aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Klassenzugehörigkeit und ihres Geschlechts unterdrückt wussten, kamen zunehmend zu der Überzeugung, dass die Probleme der Frauen nicht allein durch den kurdischen nationalen Befreiungskampf, der in den 1970er Jahren begann, gelöst werden können und, dass die Bemühungen um geschlechtsspezifische Emanzipation auch in ihren eigenen Reihen beginnen müssen.
Diese Frauen, deren Dasein als „Frau“ lange Zeit in den Hintergrund gedrängt wurde, entwickelten ein stärkeres Bewusstsein für ihre geschlechtliche Identität und machten sie innerhalb der kurdischen Bewegung sichtbar. Insbesondere seit den 1990er Jahren stehen kurdische Frauen an der Spitze der Bewegung. Sie entwickelten autonome Organisationen, die in allen Bereichen gegen die männliche Vorherrschaft kämpfen.
Die Parole Jin (Frau), Jîyan (Leben), Azadî (Freiheit) betont die Rolle und die Rechte der Frauen in der Gesellschaft und setzt sich für die Emanzipation und Teilhabe der Frauen in allen Bereichen der Gesellschaft ein. Die kurdische Bewegung hat zunehmend eine Perspektive der Frauenbefreiung entwickelt, die mit dem Paradigma einer demokratischen, frauenbefreienden und ökologischen Gesellschaft verbunden ist. Diese Parole stellt somit die Grundprinzipien der kurdischen Frauenbewegung dar und drückt den Widerstand gegen die feudalen und patriarchalischen Verhältnisse auch innerhalb der kurdischen Bevölkerung und die Forderung nach Freiheit, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung der Frauen überhaupt aus. 



Wie groß ist der gesellschaftliche und politische Einfluss der Kurd:innen in den vier Hauptheimatländern der Kurden - Türkei, Irak, Iran und Syrien - und in der Welt?
Kurdistan ist in vier Staaten unterteilt: Türkei, Iran, Irak, Syrien. Alle diese vier Länder haben unterschiedliche politische, wirtschaftliche, geopolitische und soziologische Historien und Dynamiken. Diese Verhältnisse prägen jeweils die politischen Erfahrungen und Profile der kurdischen Bevölkerungen. In der autonomen Region Kurdistan in Nordirak hat sich nach dem Sturz von Saddam der Barzani-Stamm mit seiner patriarchalen und neoliberal-kapitalistischen Dependenzführung etabliert, während das iranische Regime seine eigenen Kinder überhaupt tötet und jede kritische Stimme in der Sekunde erstickt. Insbesondere im Kampf gegen den IS wurden die kurdischen Kämpferinnen durch die global-westlichen Mainstream-Medien ganz groß auf die Bühne gebracht. Wenn wir heute die kurdischen Frauen in Rojava/Nordsyrien fragen würden, was sich seither getan hat und wie sie sich heute durch die bestimmenden Akteur*innen der Weltpolitik behandelt oder von einem Großteil der Weltbevölkerung erinnert und gesehen fühlen, werden sie von weniger enthusiastischen Erfahrungen berichten. Dennoch und im Wissen darüber, dass sie gegen Windmühlen kämpfen, setzen sich emanzipierte und organisierte kurdische Frauen an vordersten Fronten und in Vernetzung und Kooperation mit anderen Frauengruppen und –bewegungen für die Selbstbestimmungsrechte der Frauen und unterdrückten Bevölkerungen dieser Welt ein.
Gerade die europäische Diaspora und die neuen Generationen, die sowohl den Weltsprachen mächtig als auch organisiert sind, sind bemüht, stets im Diskurs zu bleiben, zu vernetzen und weiter Bewusstsein zu schaffen, sowie zu mobilisieren und zu organisieren, denn sie wissen, dass es um die Nicht-Auslöschung ihrer Identität, ihrer Existenz und ihres Daseins als Kurd:innen und als Frauen in den Wahrnehmungen und Gedächtnissen der Menschheit und damit zusammen um Hoffnung und Pionierarbeit für die Idee:„Eine andere Welt ist möglich“, geht.

Die Iran-Revolution von 2022 begann im westlichen Teil des Irans, im kurdischen Gebiet. Ein wichtiger Aspekt dieser Revolution ist die Solidarität der Frauen über die Landesgrenzen hinweg. Die Stadt Wien hat als erste Stadt der Welt eine Straße in „Mahsā Jîna Amīnī“ umbenannt. Wie wichtig und effektiv ist diese Form der Solidarität?
Ruth Klüger schreibt zum Beispiel: „Die Kriege gehören den Männern, daher auch die Kriegserinnerungen“. Dieses Zitat soll nicht noch einmal die Polarisierung entlang heteronormativ definierter Geschlechtlichkeit bekräftigen. Vielmehr soll es die Frage aufwerfen: „Wem soll die Zukunft gehören und woran wollen wir uns dann erinnern, vor allem auf welcher Seite wollen wir dann gestanden haben?“ Wenn wir eine Sprache brauchen, die nicht das Zerstörende, sondern das Konstruktive und Schaffende im Denken und im Handeln bewirken soll, dann braucht es der Bildung von Solidarisierungsachsen. Es braucht Mehrstimmigkeit und es braucht das ins Bewusstseinrücken der real gelebten Vielfalt. Wir sollten aus unseren Solidaritätsbemühungen mit der Iran-Revolution von 2022 lernen und diese Erkenntnisse nutzen, um weitere Solidaritätsachsen zu forcieren und uns weiterzuentwickeln. Das Feuer der Iran-Revolution von 2022 ist nicht erloschen und es brennen Feuer an anderen Orten der Welt. Internationale Kooperationen, die auf konstruktives Brückenbauen basieren, werden immer mehr an Bedeutung gewinnen. Die Stimmen der Benachteiligten werden wieder lauter werden, denn: Es gibt nur eine Welt und das ist diese Welt.
Die Wiener Stadtbevölkerung ist durch eine wachsende Diversität geprägt und wir brauchen demokratiepolitische und pluralistische Plattformen, um in Austausch und Reflexion mit jenen Frauen und Schwestern zu geraten, mit denen wir unseren unmittelbaren Lebensraum immer mehr teilen. Im Lernen voneinander können wir wirksamere und wirksame Formen von Solidarität praktizieren, die weit über die Grenzen von politischen und populistischen Symbolakten hinausgehen und Herzen und Hirne auf Augenhöhe und in Respekt und Wertschätzung miteinander verbinden. So können wir kritisch-reflektierte Gegenstimmen und -bewegungen fördern gegen die zerstörerische Dominanz von Zerstörungs-, Spaltungs- und Verwertungssystemen, denen wir täglich ausgesetzt sind.      

Interview: Madge Gill Bukasa
Bild: Parizad Farzaneh

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