200 Jahre in Afrika: Horst Kleinschmidt

 



Horst Kleinschmidt ist ein südafrikanischer Menschenrechtsaktivist und Theologe. Er engagierte sich gegen die Apartheid in Südafrika. Im Jahr 1976 floh er aus Südafrika ins Exil und leitete von dort aus das verbotene Christian Institute. Er ist Beiratsmitglied des Wiener SADOCC- Vereins, war Leiter des Internationalen Verteidigungs- und Hilfsfonds für das südliche Afrika (IDAF) und Mitorganisator der legendären "Free Mandela"-Konzerte im Wembley- Stadion. Im Jahr 1991 wurde Horst Kleinschmidt in Wien mit dem Bruno Kreisky-Preis für seine Verdienste um die Menschenrechte ausgezeichnet.

buntesAT: Lieber Horst Kleinschmidt, wie kam es zu Ihrer Verbindung mit dem in Österreich ansässigen Verein SADOCC - Dokumentations- und Kooperationszentrums Südliches Afrika, der seit 30 Jahren von Walter Sauer geleitet wird?
Horst Kleinschmidt: Die Verbindung besteht schon viel länger als nur diese 30 Jahre. Ich war das erste Mal 1977 in Wien, weil meine Schwester in Johannesburg einen Österreicher geheiratet hatte und der kam dann mit ihr nach Österreich zurück. Da ich Vertreter des südafrikanischen christlichen Instituts war, war ich dem Magazin „Kritisches Christentum" bekannt. Außerdem sprach ich Deutsch und das war sozusagen mein Schlüssel. Ich glaube, ich war einer der ersten Sprecher bei der Gründung des Vorgängervereins von SADOCC, der Anti-Apartheid-Bewegung von Österreich. Später, als ich im Exil lebte, 3 Jahre in Holland und 12 Jahre in London, verband mich immer eine Freundschaft mit Walter Sauer. Wir haben immer sehr gut kooperiert und uns in politischen Fragen gut verstanden.

Wie kommen Sie eigentlich zu Ihrem großartigen Deutsch?
 Ja, ich spreche Deutsch, obwohl ich nie in Deutschland gelebt habe. Meine Eltern sind beide in Namibia geboren und auf der Seite meines Vaters sind mein Großvater und mein Urgroßvater in Namibia geboren. Insgesamt ist der deutsche Teil der Familie als Missionare schon über 200 Jahre in Afrika, sogar vor der deutschen Kolonialzeit. Mit dem Dritten Reich wurde auch in den früheren Kolonien auf einmal wieder deutscher Nationalismus entwickelt und entfacht. Dazu gehörten mein Vater und meine Mutter, und so wurde Deutsch auf einmal wieder beigebracht und gesprochen, obwohl die vorherigen Generationen nicht darauf bestanden hatten und eher in ein Patois des lokalen Afrikaans übergegangen waren. Als meine Eltern von Namibia nach Johannesburg umzogen, wurde ich auf eine deutsche Schule geschickt. Bis zu meinem 20. Lebensjahr war Deutsch meine erste Sprache, Afrikaans die zweite Sprache und Englisch die dritte Sprache. Heute ist es genau umgekehrt, weil ich keinen Kontakt zur deutschen Gesellschaft in Südafrika habe. Das hat politische Gründe. Selbst mit meinem Bruder spreche ich nur noch Englisch.

Sie waren im Jahr 1974 Adoptivvater der Töchter von Nelson Mandela. Wie kam es dazu?
Ich arbeitete mit meiner damaligen Frau an diesem christlichen Institut in Johannesburg. Um diese beiden Jobs anzunehmen, hatten wir Unterkunft bekommen bei einem befreundeten katholischen Pater, Cosmas Desmond, der von der Apartheid-Regierung schon unter Hausarrest gesetzt wurde. Er lebte in einem Haus, wo es hieß, dass er von abends 18 Uhr bis morgens um 6 Uhr das Haus nicht verlassen durfte und dass er zu keinem Zeitpunkt mit mehr als einer anderen Person reden durfte. Darüber hinaus gab es noch etwa 50 andere Dinge, die er nicht tun durfte. Er durfte den Distrikt nicht verlassen, er durfte in keine Schule oder Universität gehen, er durfte dies und das und alles Mögliche nicht. Aber die Frage, ob man sich mit ihm ein Haus teilen konnte, die stand offen. Und als einen Akt von Widerstand haben wir uns, meine Frau und ich, gesagt, wir teilen uns das Haus. Die Gesetzgebung sagte nicht spezifisch, ob man das Haus in zwei teilt und da haben wir uns dann quasi die Küche und das Badezimmer geteilt, und wir haben so getan, als hätten wir unser eigenes Wohnzimmer und natürlich hatten wir unsere eigenen Schlafzimmer. Damit war es dann möglich, dass er abends, quasi durch uns, Gäste empfangen konnte. Die sind also zu uns gekommen, auch wenn sie die Absicht hatten, nur ihn zu besuchen. Wie in Nazi-Umständen im oder vor dem Zweiten Weltkrieg in Österreich oder Deutschland musste man immer darauf warten, dass irgendwann die Polizei an die Tür klopft. Das war dann die Sicherheitspolizei und die wollten wissen, wer ist hier und hat dieser „gebannte Mann" sich mit denen getroffen. Natürlich, sobald jemand an die Tür klopfte, sind die Gäste zu uns dann in unser Wohnzimmer gekommen und haben so getan, als hätten sie uns besucht und das war dann ein Werdegang, um seine Begrenzungen, die auf ihn gesetzt wurden, zu umgehen.
Eines Tages kam ich nach Hause mit meiner Frau und da saß in unserem Wohnzimmer eine schwarze Frau und sie stand auf und sagte sofort, „Ja, ich bin aus besonderen Umständen hier. Ich bin auch eine gebannte Person, ich darf mit eurem Gastgeber nicht reden, ich bin Frau Winnie Mandela." Da habe ich sie 1972 das erste Mal kennengelernt. Winnie Mandela und Cosmas Desmond waren verbunden durch Untergrundaktivitäten, obwohl sie beide gebannt waren. Es ging damals darum, wie man jungen Leuten verhelfen kann, ins Ausland zu kommen, um der Befreiungsbewegung beizutreten. Es ging immer um Leute, denen der Pass verweigert wurde, und das waren jüngere schwarze Kinder aus Soweto und sonst wo, denen wir irgendwie den Weg bereitet haben, außer Landes zu gehen. Dadurch entwickelte sich natürlich ein Verhältnis und dadurch auch ein Vertrauen und wir kannten Winnie Mandela immer besser, immer besser.
Sie durfte nicht im weißen Johannesburg leben, sie wohnte in Soweto in Diepkloof und wir durften nur mit einer Genehmigung nach Soweto kommen. Wir sind wiederholt bei ihr zu Besuch gewesen und das Verhältnis lief recht gut. Sie wurde wiederholt von der Polizei, vor allem nachts, angegriffen. Ihr
Dach wurde einmal quasi von Polizisten abgerissen. Winnie Mandela war eine von zwölf Personen in Soweto, die einzigen Schwarzen, die ein Telefon hatten. Sie hat uns dann wiederholt versucht anzurufen, das wurde natürlich unterbrochen, nur um zu sagen, „Ich weiß jetzt nicht, ob ich morgen noch da bin. Es passiert wieder was!" 1974 wurde Winnie Mandela zum ersten Mal mit einer Anklage vor Gericht geführt. Das war wichtig, denn vorher wurde sie unter den politischen Gesetzen verhaftet, das heißt keine Anklage, keine Person im juristischen Rahmen. Insofern hat der Staat sie einfach nicht für real gehalten. Aber hier wurde sie zum ersten Mal verurteilt mit einem Fotografen, den ich sehr gut kannte, Peter Magubane, dass sie miteinander geredet hätten und das dürfen gebannte Leute nicht. Die Aussage vor Gericht war, dass sie in der Stadt im weißen Johannesburg, wo sie tagsüber arbeitete, über die Straße gerufen hätte zu dem Auto, in dem Peter Magubane saß, „Es regnet gerade, kannst du meine Töchter mit nach Soweto bringen?" Das war die Aussage, laut der sie dann sechs Monate Gefangenschaft bekam. Es gab Beweise, weil Zeugen dort waren... bababa. Sie wurden beide zu sechs Monaten ver- urteilt und ich war aus Solidarität im Gerichtssaal, als sie verurteilt wurde. Man hatte sich vorher darüber keine Gedanken gemacht, aber in allerletzter Minute, als sie also gerade abgeführt wurde in die Zellen unten, sagte ihr Rechtsanwalt, „Jetzt haben wir ein riesen Problem! Denn, wenn Sie zum ersten Mal juristisch verurteilt ist, dann werden die Kinder, weil der Vater auch im Gefängnis ist, das Eigentum des Staates und sie kommen dann in die Wohlfahrt des Staates.“ Was das damals für schwarze Kinder hieß, das kann man sich nur denken, das ist eine Unmöglichkeit, wir müssen das verhindern! Ich war der Nächststehende und wahrscheinlich am besten mit ihr verbundene Person, dass sie sagte: „Ich ernenne dich, Horst, als den Vertreter meiner Kinder!” für die nächsten sechs Monate. Der Rechtsanwalt sagte sofort, das bedeutet aber auch, dass die Unterschrift von Nelson Mandela da kommen muss. Das können wir arrangieren, er ist auf Robben Island, aber es wird einige Tage dauern. Ich bin ein viel jüngerer Mensch. Als Nelson Mandela verurteilt wurde, war ich noch überhaupt nicht politisch bewusst und warum sollte er jetzt seine Kinder einem weißen, jüngeren Ehepaar in Johannesburg übergeben.
„Nein, nein, die Rechtsanwälte würden das schon machen..." und Winnie sagte noch, „Nelson ist ganz gut informiert darüber, wie die Sachen laufen, und er wird deinen Namen schon gehört haben.” Er unterschrieb das dann auch und dadurch bin ich als die Rechtsperson für die zwei Töchter eingetreten, die natürlich weiterhin in Soweto leben mussten, aber in dem Haus, wo Winnie immer lebte. Das Jahr darauf wurde ich dann verhaftet und war unter denselben Umständen inhaftiert, unter denen Winnie wiederholt inhaftiert war. Damit habe ich dann dieselben Erfahrungen machen müssen in Einzelhaft und 73 Tage keine andere Person zu sehen und so weiter.

Wie war es generell, Anti-Apartheit-Kämpfer für den ANC (African National Congress) zu sein?
Es geht also um die 70er Jahre und den ANC sowie eine andere politische Organisation, den Panafricanist Congress. Diese wurden 1960 verboten und die führenden Personen wie Nelson Mandela wurden entweder zu lebenslangen oder sehr langen Gefängnisstrafen verurteilt. Ein großer Teil wurde unter Hausarrest gestellt oder verbannt, während ein weiterer großer Teil ins Exil floh, da sie keine Pässe hatten. Als ich politisch aufwuchs, war es in den 70er Jahren fast unmöglich, Zugang zum ANC zu bekommen. Die eigentliche politische Orientierung in diesen Jahren, ohne die Anwesenheit des ANC, wurde von der sogenannten „Black Consciousness Organisation” gegeben.
Wir waren einfach im Widerstand gegen die Apartheid und es gab keine anderen Wege. Das war eine ethische und moralische Verpflichtung, die man sich als Weißer überlegt hat. Das Wichtige war, wie wir uns auf neue Weise solidarisch erklären und diese Solidarität auch wirklich umsetzen können. Nach dem Verbot des ANC im Jahr 1960 waren viele liberale Weiße wohlgesinnt, aber sie sprachen immer für Schwarze. Das war nicht besonders radikal, sondern im Gegenteil, es ging eher um die Frage, wie man das Apartheidsystem reformieren und verbessern könnte. Dann kam die schwarze Bewusstseinsbewegung und wehrte sich dagegen. Und mit dieser Bewegung wuchs ich als Student auf, das war mein Bewusstsein.
Ende der 60er Jahre kam ich an die Universität in Johannesburg und besuchte einen Kongress, um zu hören, was bei diesen Veranstaltungen ablief. Ich war überhaupt noch nicht beleckt von politischen linken Denken. Ich hatte aber großes Interesse und ich war auch offen der Sache gegenüber. An der deutschen Schule hatte ich einen Lehrer, der immer betonte, dass wir uns als Deutsche über die Nazi-Vergangenheit bewusst werden sollten, was an der deutschen Schule sehr verpönt war. Dieser Lehrer hatte besonders auf mich und meinen Bruder gesetzt und wir waren sehr empfänglich dafür. Nun standen wir vor der Konfrontation mit der Apartheid. Es war eine Rassentheorie, die dann juristisch umgesetzt wurde.
Also saß ich bei diesem Kongress und hörte viel und lernte viel. Am letzten Abend gab es ein großes Essen und wir saßen an einem riesigen U-förmigen Tisch. Ich saß ganz am Ende und mir gegenüber saß einer der wenigen schwarzen Studenten. Er war einer von höchstens fünf schwarzen Studenten unter mindestens 200 weißen Studenten. Wir, die für Veränderungen in Südafrika arbeiteten. Schwarze Studenten hatten alle möglichen Schwierigkeiten, an solch einen Kongress zu kommen. Da gab's jede Menge Verhängnisse. Zu einem be- stimmten Zeitpunkt während des Essens wurden wir aufge- fordert, die Nationalhymne der weißen Regierung zu singen, und das tat ich auch. Der Präsident der Studentenorganisation sagte: „Wir tun das, weil wir zwar kritisch gegenüber dem Staat sind, aber wir sind dem Staat gegenüber auch loyal.” Der schwarze Student mir gegenüber stand nicht auf. Und als wir uns alle wieder hinsetzten, stand er alleine auf, hob seine Faust und sang Nkosi Sikelel'. Das ist heute unsere Nationalhymne. Das war das erste Mal, dass ich das gehört habe, 1967 in Johannesburg. Ich hatte das noch nie zuvor gehört. Die Leute neben mir hatten alle politisch mehr Erfahrung als ich und sagten: „Das ist illegal! Er wird dafür verhaftet! Das darf nicht gesungen werden!" Das war das erste Mal, dass ich unsere heutige Nationalhymne gehört habe. Ich war sehr neugierig und beeindruckt von dieser Haltung „Ich bin anders. Ich mache es anders als ihr." Nachdem er sich gesetzt hatte und wir wieder zu reden begannen, ging ich um den Tisch herum, stellte mich ihm vor und sagte: „Ich bin sehr beeindruckt. Da steckt viel dahinter und ich hätte das gerne gehört. Mein Name ist Horst Kleinschmidt." Und er sagte: „Und mein Name ist Steve Biko." Er wurde dann zur symbolischen Figur dieses schwarzen Bewusstseins. Ich habe sofort eine Freundschaft mit ihm geschlossen, aus anderen Gründen als man denken könnte. Denn an den Tagen davor und danach waren wir beide nicht mit den Regeln der Debatten vertraut, die im englischen House of Commons und in der englischen Studentenbewegung üblich waren. Jedes Mal, wenn wir etwas sagen wollten, wurde uns gesagt: "Out of order!", „Darfst du nicht!”,
„Das geht nicht nach dieser Regel...”. Er und ich wurden jedes Mal rausgeworfen und sind fast ausgeflippt. Da dachte ich, mit dem habe ich ziemlich viel Akkord und wir waren nicht die einzigen. Wir waren eine Gruppe von Weißen und Schwarzen, die eben nicht aus diesem feudalen Hintergrund kamen. Er lud mich dann ein, nach Durban zu kommen, wo er studierte. Er war damals im ersten Jahr Medizinstudent und das beschleunigte meine politische Entwicklung sehr. Erst war ich natürlich beeindruckt von diesen liberalen, englischen Leuten, die eine neue Welt für mich darstellten, und dann ging ich aber ziemlich schnell über in Unterstützung dieser schwarzen Welt. Aber diese Steve Biko-Sache entwickelte sich dann in eine politische Organisation, die sagte, hier ist kein Platz für weiße Leute. Viele Weiße empfanden das so, dass das schwarze Bewusstsein und Steve Biko genau das taten, was die Apartheid wollte. Jeder läuft seinen eigenen Gang, in seiner Rasse. Die afrikaans Weißen, die englischen Weißen, die Schwarzen und vielleicht noch geteilt in all mögliche Subgruppierungen. Das habe ich aber nicht geglaubt. Ich glaube nie, dass Steve Biko das meinte. Das war für ihn eine Strategie, aber kein Prinzip. Und er hat Recht gehabt bis heute meines Erachtens, dass man zu einer Strategie zu dem Zeitpunkt diese Vormundschaft, die die Weißen hatten, überwinden musste, und ein anderer Weg gefunden werden musste. Trotz dieser Absonderung haben wir, ich mit anderen Freunden, weiterhin ein gutes Verhältnis mit ihm geführt. Es ist ihm zu verdanken, dass wir uns als Weiße, die aus der Klasse der Unterdrücker kamen, unsere Lage neu durchdacht haben und uns neu orientieren mussten. Wir konnten nicht behaupten, dass wir den Weg zur Befreiung wussten oder überhaupt anleiten konnten. Das bedeutete, dass wir uns neue Gedanken über unsere Solidarität machen mussten.

Sie haben bereits von der Herkunft Ihrer Familie erzählt, die seit 200 Jahren in Afrika ist. Was waren die entscheiden- den Momente, die Ihr Interesse an Solidarität mit Schwarzen und der Anti-Apartheid-Bewegung geweckt haben? War es nur Ihr Lehrer oder waren es auch persönliche Erfahrungen? Was würden Sie heute sagen?
Ich werde diese Frage so ehrlich wie möglich beantworten. Trotz der Tatsache, dass meine Eltern Mitglieder der NSDAP (Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei) in dem damaligen Südwestafrika waren, habe ich von meinem Vater Gerechtigkeit gelernt. Was meine ich damit: Mein Vater ist nicht der NSDAP beigetreten, weil er Schwarzen oder Juden gegenüber Hass empfand. Nein, er konnte nach dem Ersten Weltkrieg als jemand aus einer früheren deutschen Kolonie keine Arbeit finden, weil er von der neuen Herrschaft aus Südafrika, die Englisch war, diskriminiert wurde. Deshalb suchte er seine Zuflucht in der NSDAP.
Ich erinnere mich sehr gut daran, ich war wahrscheinlich 7 Jahre alt, um 1952, als wir, mit dem Auto an die Küste fuhren, wie weiße Familien es taten, um Weihnachten zu feiern - das ist bei uns natürlich die Sommerzeit. Wir waren drei kleine Kinder. Ich war der Älteste, dann kam mein Bruder und danach meine Schwester in Windeln. Wir hatten eine schwarze Nanny mit uns. Die schwarze Frau mit ihrem weißen Hütchen saß hinten auf dem Sitz, weil sie auf die Kinder aufpassen sollte. Eine typische koloniale, rassistische Situation. Auf dem Rückweg, etwa zwei Wochen später, hielten wir an einer Tankstelle an und warteten, bis die Autos Benzin bekamen. Neben uns stand ein aufgebocktes Auto, darunter lag jemand, der es zu reparieren versuchte. Man konnte wahrscheinlich an den Beinen oder Füßen erkennen, dass es sich um eine schwarze Person handelte. Schwarze durften damals nicht Mechaniker sein, das war den Weißen vorbehalten, auch wenn die Fähigkeit der Schwarzen vorhanden war. Und dieser Schwarze hatte offensichtlich versucht, selbst etwas unter dem Auto zu reparieren. Während wir warteten, kam ein weißer Mechaniker in seinem weißen Overall und begann, diesen schwarzen Mann gefährlich zu treten. Mein Vater stieg aus dem Auto aus und hinderte den weißen Mann daran, weiterzumachen. Als Siebenjähriger erinnere ich mich daran, weil dieser weiße Mann meinem Vater sofort eine blutige Nase schlug. Meine Mutter schrie: „Komm zurück ins Auto! Fahr weg! Los, weg von hier!” Aber mein Vater stand für Gerechtigkeit ein, weil dieser schwarze Mann sich nicht verteidigen konnte. Ich könnte weitere Beispiele nennen, aber dadurch entwickelte sich bei mir ein Bewusstsein für allgemeine Gerechtigkeit.
Später kamen weitere Dinge hinzu. Als Student und dann engagierter Aktivist ging ich durch die Verbindung mit Steve Biko zu einem Seminar, in dem wir politische Bildung betreiben wollten. Dort habe ich mich zum ersten Mal in ein indisches Mädchen verliebt, und das war gegen das Gesetz. Wie trifft man sich, wenn man sofort verhaftet wird? Es dauerte 18 Monate, bis es einfach nicht mehr weiterging. Zu jedem Zeitpunkt konnte man unter dem sogenannten "Immorality Act" verhaftet werden, einer Gesetzgebung, die jede Beziehung zwischen Weiß und Schwarz als „unmoralisch” erklärte und verurteilte. Wenn man das einmal miterlebt hat und die Brutalität, die damit einhergeht, dass man nicht gefangen genommen wird oder dass wir uns niemals in einer weißen Umgebung treffen konnten, sondern immer nur in einer absolut indischen Umgebung, weil Inder keine rassistischen Vorurteile gegenüber Weißen hatten, aber in einer weißen Umgebung war es genau das Gegenteil. Das hat mich sehr beeinflusst und hat mich auch politisch sehr viel weitergebracht.

Die Apartheid wurde 1948 eingeführt, das heißt drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie erklären Sie sich, dass sich in einer Welt, in der man sich gerade von den Gräueln des National- sozialismus zu erholen versuchte, ein rassistisches System etablieren konnte, das fast 44 Jahre lang Bestand hatte? War Südafrika so abgeschottet von der Welt?
Kolonialismus ist natürlich ein System, in dem die Unterwerfung von Rassen ein Prinzip war. Schon lange vor 1948, als das System offiziell Apartheid genannt wurde, gab es dieses Kolonialsystem. Die Tragödie für Südafrika ist, dass im Jahr 1868 Diamanten und 1884 Gold in Südafrika entdeckt wurden. Dadurch wurde Südafrika praktisch das beste Kolonialland für Europäer, und Zigtausende von Weißen sind dorthin ausgewandert, um ihr Vermögen zu machen und haben es auch gemacht! Dies wurde jedoch auf rassistischer Basis aufgebaut.

Im Apartheitssystem gab es gewisse rassisti- sche Argumente, wie das intellektuelle oder re- ligiöse Argument. Das intellektuelle Argument besagte, dass schwarze Menschen den weißen Menschen unterlegen sind. Das religiöse Argu- ment besagte, dass man nicht glaubt, dass die schwarze Rasse minderwertig sei, aber dass sie noch nicht so entwickelt sei wie die weiße Rasse. Und da die Weißen bereits 300 Jahre lang die Arbeit geleistet hatten, würde Gott sicherlich nicht wollen, dass Weiße jetzt alles verlieren und aufgeben. Alle diese Argumente mussten widerlegt werden. Was hatte für Sie persönlich und für die Gesellschaft eine dekonstruktive Wirkung auf das Apartheid-System?
Das ist eine sehr wichtige und gute Frage. Auf religiöser Basis und auch durch das System meinte man, die Leute seien noch nicht fähig oder sie seien unterwürfig oder was auch immer. Rassismus konnte durch Theorien gerechtfertigt werden, in Südafrika vor allem durch die Kirche. Die weiße Bevölkerung wurde dominiert von einer sogenannten holländisch reformierten Kirche. Das ist quasi eine calvinistisch orientierte Kirche, die die Theorie der Unterwerfung der Schwarzen befürwortete mit ihren Argumenten, genauso wie Sie es eben sagten. Wir sind nicht gegen Schwarze, aber es wird eben noch lange dauern und die müssen erst entwickelt werden, darum eben der Name "separate development". "Separate development" war der Gedanke, wir sind gar nicht diskriminierend, sondern wir tun unser Bestes, die Leute zu fördern. Aber das war ein Fehlargument und wurde benutzt, um die Leute zu unterdrücken, um die Arbeitskraft der Schwarzen immer in einer quasi kolonialen bzw. fast sklavenartigen Rolle zu halten, auf den Minen als Arbeiter und sonst wo in diesem unwahrscheinlichreichen Land. Man brauchte die Leute, aber man musste sie konditionell halten. Das hat mich dann beeinflusst, weil nachdem ich mein Studium beendet hatte, wollte ich Lehrer sein, aber dadurch, dass ich oft Artikel gegen Apartheid und das Erziehungswesen der Apartheid schrieb, wurde ich als Lehrer nicht angenommen. Mir wurde dann Arbeit in dem südafrikanischen christlichen Institut angeboten, und der dortige Leiter war Pfarrer Beyers Naudé. Er wurde in Österreich und anderen Teilen Europas sehr bekannt als ein Pfarrer dieser holländisch reformierten Kirche, der sich nach den Erschießungen von Sharpeville im Jahr 1960 ganz stark mit theo- logischen Argumenten gegen die Apartheid gewandt hat. Im Dezember 1960 gab es eine Konferenz "Cottesloe Consultation", da hat er sich als einer der wenigen südafrikanischen Weißen gegen Apartheid ausgesprochen. Die Weißen wollten Apartheid nicht verurteilen. Dieser Beyers Naudé wurde eine Leitfigur und hatte mich eingeladen, mit ihm in den Kampf einzutreten. Wir haben sehr lange bis ans Ende seines Lebens zusammen agiert. Ich bin sein Vertreter in Europa geworden, nachdem ich ins Exil gegangen bin. Er ist unter Hausarrest gekommen, ist in die Untergrundorganisation eingetreten, hat mit dem ANC gearbeitet und die allergefährlichsten Dinge gemacht. Und wiederum ging es um die Frage, wie wirkt meine Solidarität als Weißer im Kampf, dieses Systems umzuwerfen? Wie ist das mit meinem christlichen Glauben zu vereinbaren und ist mein Glaube nur glaubwürdig, wenn ich das tue, was für mich dieselben Riskanzen birgt wie für einen Schwarzen, der im Widerstand ist?
Mich hat auch beeinflusst, was Pastor Dietrich Bonhoeffer im Widerstand der Kirche gegen die Nationalsozialisten während des Zweiten oder bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland unternommen hatte. Der Biograf von Dietrich Bonhoeffer, Eberhard Bethge, der mit in dieser Untergrund- organisation der Deutschen gegen Hitler kämpfte, hatte den Krieg überlebt, während Dietrich Bonhoeffer erhängt wurde. Er wurde ein Freund von Beyers Naudé und hat uns besucht. Da ging es um dieselben Fragen der Theologie, dass die Theologie niemals ein Instrument der Unterdrückung sein kann und dass wir, wenn wir überhaupt als Christen glaubwürdig sind, uns in den Widerstand setzen müssen und dass wir dieselben Riskanzen tragen müssen, auch wenn wir zur Täterklasse gehören. Er sagte immer wieder: „Wir sind von der Täterklasse.” Das heißt, dass wir Vorteile haben, auch wenn wir uns lange schon gegen diese Apartheid wehren. Wir haben trotzdem riesige Vorteile: Finanzvorteile, Bewegungsvorteile. Wir können alle möglichen Dinge tun, die andere Leute nicht tun können. Wie machen wir unsere Solidarität plausibel? Wie kann der Solidarität von schwarzer Seite vertraut werden?
Von politisch bewussten Leuten und auch von theologischer schwarzer Seite wird heute gesagt, wie wichtig es war, dass sich Weiße so in den Kampf eingesetzt haben wie Beyers Naudé, weil er dadurch nicht zur Grundformulierung kam, dass es ein Kampf von Schwarz gegen Weiß oder Weiß gegen Schwarz ist, sondern dass es immer um eine gemeinsame Humanität geht, auf einer Klassenbasis und nicht auf einer Rassenbasis.

Gibt‘s in Südafrika auch Straßenzeitungen, die sie gerne lesen?
Ja, da gibt's Big Issue, die in Kapstadt herausgebracht wird. Ich kauf sie immer und es gibt immer Unterhaltung mit den Leuten, das mach ich! 

Interview: Madge Gill Bukasa



 


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