Gewalt in der „Exponentialgesellschaft“
Auf einer Liste der am häufigsten verwendeten Wörter in den Printmedien würde „Eskalation“ ganz oben stehen. Der Begriff darf als Entsprechung für den eher unangenehm mathematisch klingenden Begriff des „Exponentiellen“ gelten.
Man hat sich daran gewöhnt zu lesen, dass Kriege „eskalieren“.Neu auf der Bühne der Bad News ist allerdings die Eskalation der Gewalt unter Jugendlichen. Und sogar unter Kindern. Der exponentielle Anstieg macht den Bau von weiteren Strafanstalten nötig. Die Kosten für die Justizanstalt Münnichplatz in Wien-Simmering belaufen sich laut einer parlamentarischen Anfrage im Sommer 2025 auf 4,73 Millionen Euro. Jugendkriminalität ist zwar nicht neu, aber neu sind die neuen Möglichkeiten Gewalt auszuüben.
Sind wir eskalationsmüde und harmoniesüchtig?
Bad News are Good News. Aber gilt das heute immer noch? Mittlerweile gehen die Bad News so auf die Nerven, dass die Soziologen für das Milieu der Verweigerer von traurig stimmenden News mehrere Fachvokabel haben: "Nachrichtenvermeidung", "News Avoidance", "News Fatigue" (Nachrichtenmüdigkeit) oder "Information Overload" (Informationsüberflutung).
Statt Kriegen und Bombardements jeder gegen jeden sehnen wir uns nach der rosaroten Brille eines Disney Channels auf dem die Welt noch heil ist. Und nicht einmal das gelingt immer, wenn man dabei an die Debatten um Schneewittchen und die sieben Zwerge denkt. „Zwerg“ darf man nicht mehr sagen. „Zwerg“ gilt mittlerweile als diskriminierend. Es muss deshalb heißen „Schneewittchen und die sieben Kleinwüchsigen“. So lautet der Tenor der Sprachpolizei, die mit der Gewalt der Diskriminierungsunterstellungen gegen die vermeintlich Bösen ins Feld ziehen. Andererseits: Ganz so unpolitisch kann Disneys Zeichentrickfilm über Schneewittchen mit ihren sieben Freaks nicht sein, sonst wäre er nicht der Lieblingsfilm von Adolf Hitler und Joseph Goebbels gewesen.
Gewalt in Schulen
Noch vor etwa zwei Jahren konnte das Problem mit dem Lehrermangel heruntergespielt werden, mit dem Argument, es gäbe genügend Quereinsteiger. Wenige Wochen vor Schulbeginn fehlen jetzt in Wien, 2025, noch immer Hunderte Lehrkräfte. Der Lehrermangel wird nicht kleiner, sondern größer. Der Grund: Schüler und Schülerinnen machen Stress. Sie begehren auf. Sie betrachten ihre Anwesenheit im Klassenzimmer nicht mehr als sinnvoll und lassen diese Dissonanz dann an den Lehrkräften aus. Die wiederum sehen nicht ein, weshalb sie sich Beleidigungen gefallen lassen sollen und verlassen den Schuldienst.
Die Schüler und Schülerinnen sind nicht schlechter als früher. Bloß, sie haben mehr Macht durch die sozialen Medien.
Niemand will mehr ein Lehrstoffangebot akzeptieren, das einem Wühltisch gleichkommt. Eine Schule, die die Frage nicht beantworten kann, weshalb Kinder und Jugendliche Chemie, Physik, Biologie, Satzanalyse in Deutsch, komplizierte Rechenaufgaben in Mathematik lernen müssen baut Aggression auf. Die Gewalt an Schulen ist also zu einem großen Teil hausgemacht. Und was die tatsächlich kriminellen Intensivtäter anbelangt: hier fehlt die Autorität, sie hinauszuschmeißen und nicht bloß ein paar Wochen zu suspendieren.
Während die Politik sich die Frage stellt, wie man in Zukunft einen Massenmord, wie den in Graz, verhindern könnte, wäre es ebenso wichtig dem Ursprung zunehmender Gewalt in den Schulen nachzugehen. Wer nur an Security, Überwachung und Handscanner am Schultor denkt, der denkt schon deshalb in die falsche Richtung, weil all das gar nicht zu finanzieren ist. Fazit: Wir brauchen Systeme, die keine destruktive Gewalt entstehen lassen. Denn die Gewalt der Schüler und Schülerinnen einfach niederzuknüppeln, ist nur in einer Diktatur, in einem autoritären Staat möglich. Nicht in einer Demokratie.
Gewalt in der Familie
Aber lässt sich Gewalt niederknüppeln, wie die Unterdrückung von Schluckauf? Nach dem Druckkochtopf-Prinzip nicht. Demnach führt also Gewalt gegen Gewalt nur zu neuer Gewalt. Andererseits gilt auch die Devise: Wir müssen Kindern und Jugendlichen Grenzen setzen, müssen auch Nein sagen dürfen und „du darfst nicht“. Das ist schließlich auch Gewalt gegen Gewalt. Erzieherische Gewalt eben. Aus der Geschichte der Bildung wissen wir, dass dieses „Grenzen setzen“ auch perverse, sadistische Formen annehmen kann.
1954 wurde ein dickes Buch mit dem Titel „Heiliges Mutteramt“ veröffentlicht, im Universitätsverlag Wagner in Innsbruck, der ein Leitfaden für junge Mütter sein sollte. Es ging also um die Erziehung jener Generation, die in den vergangenen Jahren als Baby Boomer in Rente gegangen sind. Behandelt werden darin sämtliche Lebensbereiche, darunter auch, wie eine Wohnung aussehen sollte, viele Blumen, viele sakrale Skulpturen, Heiligenbilder, der festlich gedeckte Esstisch, das Badezimmer, das Schlafzimmer der Eltern, über dem Ehebett die Kopie einer sakralen Szene, Mutter mit Kind. Prälat Josef Gorbach schreibt darin:
„Scheut nicht zurück vor körperlicher Züchtigung, wenn sich eure Kinder ernste Verstöße gegen das siebte Gebot schuldig machen. Pater David schrieb vor Jahrzehnten wörtlich: Mutter, solltest du jemals eines deiner Kinder mit Elsterngut (mit gestohlenen Sachen) antreffen, dann erspare dir alle Mahnungen und Beschwörungen. Selbst der Vorhalt von Gottes allsehendem Auge, seinem heiligen Gebot und der strengen Strafe schlägt nicht ein und durch – wohl aber eine körperliche Züchtigung, vorgenommen in heiligem Ernst und mit zügigem Arm. Die empfindlichen Hiebe nimmt sich das Kind zu Gemüt.“
(Josef Gorbach (Prälat). Heiliges Mutteramt. Ein Ehrenbuch für Mutter und Kind. Innsbruck 1954, 123f.)
Wo entsteht Gewalt?
Im Frühjahr 2024 wurden für das Deutsche Schulbarometer 1500 Schülerinnen und Schüler, sowie deren Eltern zum Thema „Wohlbefinden in der Schule“ befragt. Die Ergebnisse dieser repräsentativen Studie waren wenig erfreulich: Jeder Fünfte fühlt sich in der Schule nicht wohl. Und das zumeist deshalb, weil die kognitive und emotionale Unterstützung durch die Lehrkräfte fehlt. Es sind die Rahmenbedingungen, die zu diesem Unwohlsein und damit zu schlechten Leistungen führen und nicht die Lehrer und Lehrerinnen. Keine Lehrkraft ist im Stande 30 Schülerinnen und Schüler permanent in ihrem Lernprozess zu begleiten.
Deshalb herrschen Langeweile, Sinnverlust und Entfremdung. Viele der in der aktuellen PISA Studie befragten Jugendlichen berichten von Müdigkeit und Langeweile. Aufgrund der Lebensferne der Schule, der fehlenden Handlungsautonomie der Lehrkräfte und der systembedingt erzeugten Fadesse wird die Gewalt an den Schulen, die wir heute in einem erschreckenden Ausmaß erleben müssen, in Zukunft nicht abnehmen, sondern zunehmen.
Der Amoklauf in einem Grazer BORG, einem Österreichischen Bundesrealgymnasium, am 10. Juni 2025, mit mehreren Toten sollte einmal mehr die Augen öffnen für den Umstand, dass die Schule, wie sie heute aussieht, mit Schulklassen, harten Stühlen und verpflichtenden Fächern, die Schülerinnen und Schüler wenig interessieren, Aggressionen wecken muss. Gottlob ist eine derartige brachiale Gewalt mit Pistole, einer Langwaffe und Toten wie in Graz sehr selten und nur die äußerste Spitze einer Affektamplitude. Doch klar muss sein, dass Lehrkräfte ständig mit Gewalt konfrontiert werden, mit Frechheiten, Beleidigungen und Drohungen. Anstatt über Sicherheitsschleusen und Polizeischutz an Schulen zu debattieren wäre ein proaktiver Zugang auf die Ursachen der Gewalt an Schulen nötig. Der Amoklauf von Graz, der nun traumatisch diese Stadt in die Reihe von Schulmassakern wie die in Littleton, Sandy Hook, Erfurt, Emsdetten oder Winnenden einordnet, sollte zu einem grundsätzlichen Hinterfragen unseres Schulsystems führen. Schon deshalb, weil nicht nur die psychische Gesundheit der Lehrkräfte zunehmend ernstlich gefährdet ist, sondern auch ihr Leben. Nicht die Lehrkräfte sind von gestern, sondern die Schule ist von gestern. Technologisch, inhaltlich, organisatorisch. Es darf nicht wundern, dass die Lehrkräfte als größte Herausforderung im Schulalltag das Verhalten der Schüler nennen. Das belegen Erhebungen des Deutschen Schulbarometers der Robert Bosch Stiftung, einer repräsentativen Befragung von 1540 Lehrern und Lehrerinnen allgemeiner und beruflicher Schulen. An Haupt-, Real- und Gesamtschulen nennt jede zweite Lehrkraft (52 Prozent) in Deutschland das Schülerverhalten als größtes Problem.(Vgl. ohne Autor, „Besorgt über KI“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 26. Juni 2025, S. 4. Die hier besprochene Studie wurde am Mittwoch, den 25. Juni 2025 veröffentlicht.)
Bilder und Piktogramme von Wikipedia.




