Blitzlicht: Trinidad und Tobago im Kreuzfeuer

 


Von Katja Klien - katjaklien.com.

Am letzten Tag bevor ich im März nach dem Karneval in Port of Spain zurück nach Europa fliege, fahren wir von einem kleinen Örtchen im Hinterland Tobagos zum Robinson Airport. Wir hören Stone Love Radio, einen Radiosender aus Jamaica, der DJ ruft seine Blessings in Jimmy Cliffs „They harder they come“, durch das geöffnete Autofenster eine Brise von der Nordostküste zu unserer rechten Seite, wo wir an der Turtle Bay vorbeifahren. Dort zwischen einem Dutzend Polizeiautos und Absperrbändern sehen wir einen Van, aus dessen Seitentür ein Männertorso hängt, kopfüber, der Körper lasch, die Beine sind nicht zu erkennen. Wir bleiben nicht stehen, aber wechseln den Radiosender zu den Nachrichten. Männliche Leiche, hingerichtet in der Mittagspause, mehrere Kopfschüsse. Im Jahr zuvor 2024 lag die Mordrate in Trinidad und Tobago, mit circa einer Fläche von der Größe Oberösterreichs, bei über 600. Am 06.09.2025 rechnet das Auswärtige Amt Deutschlands mit zwei Mordfällen pro Tag. Selbst für das in der Vergangenheit gewaltgeplagte Trinidad und Tobago ist diese Entwicklung eine Aggravierung, die mit der Verhängung des Ausnahme- und Notstands binnen weniger Monate zum zweiten Mal in diesem Jahr einhergeht. Im Juli wird mir wenige Stunden nach meiner Ankunft in Port of Spain auf dem Handy ein Video gezeigt, in dem eine Frauenleiche zu sehen ist, ihr Kopf, ihre Arme, ihre Beine, vom Partner zerstückelt. „Be careful. This is what happens to women in my country.“, warnt mich ein Mädchen, das mir dabei über die Schulter schaut und zum wöchentlichen Netball Match am Community Yard gekommen ist. Eine Woche später, und ein Tag bevor ich in Tobago meine Freunde wiedersehe, wird dort im Nachbarsdorf ein kaum 20 Jahre alter Mann erschossen. Um was es ging, frage ich meine Freunde, um Geld sagen die, irgendwer schuldet irgendwem Geld, es geht um Geschäfte, und Waffen sind in der Klärung solcher Angelegenheiten rasch gezogen, weil verfügbar, die „Two Lands“ (Trinidad& Tobago) werden davon überschwemmt. Venezuela ist ein zentraler Hauptexporteur, durch die Immigration einerseits, venezolanische Menschen auf der Flucht vor der Repression Nicolás Maduros, dem Staatspräsidenten Venezuelas, aber auch dessen Waffenmaschinerie trägt dazu bei, dass nicht nur in Trinidad und Tobago, sondern auch in Ländern wie Kolumbien Waffen wie 9mm Pistolen oder Maschinenpistolen wie die M/45, oft geschmuggelt von Minderjährigen, weil rechtlich nicht belangbar, niederschwellig zu erwerben sind. Teilweise für 500 Dollar teilweise, auf jeden Fall meist unter 1000 Dollar. Während Venezuela für Russland, genauso wie für den Iran Uran, Rüstungsinventar produziert und verschifft, werden Routen über die Inseln und auch weitere andere Verteilungsmöglichkeiten genutzt. Trinidad, Port of Spain, ähnlich wie Brasilien, sind die Haupttore und Häfen für den Waffen- und Drogenhandel in Richtung Afrika, von dort verzweigen sich die Transportwege nach Andalusien, Antwerpen, Rotterdam und Hamburg. Trinidad und Tobago ist dabei nicht nur Drehtüre für Waffenschmuggel, mit der Migration aus Venezuela potenzieren sich hier auch die Geschäfte der Narcos (1narcotraficante, übersetzt Drogenhändler). Venezuelas stärkste Organisation, das Kartell „Tren de Agua“, wächst längst über die Landesgrenzen hinaus, allein in den USA werden ca. 15.000 Mitglieder gezählt, das heißt mehr als im österreichischen Heer. Eine Wucht, die alle Beteiligten trifft – einerseits die Transitländer, wie der Report der Drug Law Enforcement Agencies, Latin America and the Caribbean (Quito, 3.–6. Oktober 2023) festhält: „Without illusions, there is also to observe how the use and trafficking of narcotics, methamphetamines and MDMA increases.“ Andererseits Europa in letzter Konsequenz, etwa Großbritannien, wo inzwischen mit Kokainkonsum eines jeden 10. Staatsbürgers gerechnet wird.

Venezuela nimmt in dieser Dynamik eine führende Rolle ein und löst damit Kolumbien ab. Nach dem Vietnamkrieg international an die Spitze des Handels gerückt, hat Kolumbien seither Einfluss verloren, unter anderem sind viele Mitglieder der FARC und ILN1 nach Venezuela abgewandert, neben den mexikanischen Kartellen hat das „Cartel de los Soles“, eine Verbindung von Narcos, Sicherheitskräften und Nationalgarde in Venezuela einen großen Stellenwert im internationalen Gefüge eingenommen. Die Verwebung von Maduros Politik, Waffengeschäften, Drogenhandel und Auswanderung in benachbarte Länder hat in weiterer Folge in kürzester Zeit für Trinidad und Tobago zu großem Druck geführt, der vor Ort täglich spürbar ist.
 
Während der Regenzeit im August wohne ich im Petite Valley, einem Viertel der Hauptstadt, Eine besondere Ehre ist es, bei den Ritualen des Shango2 Festivals von Olakela Massetungi, High Priest, dessen Schrein fünf Gehminuten von meinem Zuhause in Port of Spain entfernt liegt, eingeladen zu sein. Olakela Massetungi, in den 1970ern politisch aktiv, Zeitzeuge der „Student Nonviolent Coordinating Committee“, woraus sich die radikalere „Black Panther“ Organisation entwickelte, und verbunden mit der Black Power Bewegung in Trinidad, widmete sich den Wurzeln der afrokaribischen Kultur auch in der Profession als Priester der Yoruba Religion, welche ihre Ursprünge in Nigeria und im angrenzenden Benin hat. In unseren Gesprächen und seinen Ansprachen während der Rituale, erinnert Olakela Massetungi eindringlich von welcher Bedeutung der bewusste Umgang mit der Vergangenheit ist, um in der Zukunft eine friedvolle Perspektive zu schaffen. Geschichtlicher Kontext, das Leben der Ahnen, deren Wunden und Auswirkungen auf unsere Existenz, alltägliches Handeln und Empfinden sind unentbehrliches Wissen, wo ansonsten Lücken entstehen, die kompensatorisch gefüllt werden, aber nicht die Identität zu einem Gefühl des „Ganz Seins“, damit verbunden zu Sicherheit und Halt, führen. Das betrifft die individuelle Entwicklung, aber auch kollektive Komponente. „Wird die linke Hand schmutzig, braucht es auch die rechte Hand, um sie ausreichend zu reinigen.“ wie Olakela Massetungi im Abschlussritual des Festivals allegorisch vermittelt. Unser gegenseitiger Austausch basiert auf einer Brücke, die wir zwischen den „Two Lands“ und Österreich bauen, in dem gemeinsamen Anliegen und Ansinnen unsere gewaltgeprägte Vergangenheit auf beiden Seiten und von beiden Seiten aufzuarbeiten. Denn mit in deren Ursprung entstehende Spiralen von Gewalt und Verlust, Vermeidung aber auch „Reenactment“, das heißt einem Wiederholungszwang der erlittenen Traumatisierungen, sind wir täglich konfrontiert, sowohl innerhalb der „Opfer- wie auch Täterarbeit“. Dr. Ulrich Sachsse, Psychiater in Thüringen und Kapazität der Psychotraumatologie im deutschsprachigen Raum, unterstreicht in seinen Ausführungen („DESNOS- Komplexe Traumafolgestörungen“, Zentrum für Psychotraumatologie Wien, 2017), dass Kriegstraumatisierungen, kollektiv wie individuell, über Generationen weitergegeben werden. Der Körper speichert Informationen und symptomatisch werden diese zum Teil erst in der 2. oder 3. Generation sichtbar, was im traumatherapeutischen Kontext und Beobachtungen als gesichert gilt (Vgl. Bessel van der Kolk, niederländischer Psychiater und Autor). Nach drei bis vier Generationen können diese alten Wunden geheilt werden, wenn nicht erneut traumatische Ereignisse, kollektiv wie als persönliches Schicksal erlebt, sich dazu addieren. Nach rassismusinduzierten, transgenerationalen Traumatisierungen im afrokaribischen Kontext rollt nun tsunamiartig eine weitere Welle der Gewalt über Trinidad und Tobago, was nicht nur gegenwartsbezogene Traumatisierungen verursacht, sondern zusätzlich transgenerational übertragene, traumatische Muster reaktiviert. Umso mehr sieht Olakela Massetungi in seiner täglichen Arbeit in der „community“, seine Aufgabe darin Familie, Freunde und Nachbarn zu schützen, unterstützen und die Lage in seiner Heimat zu stabilisieren. „Ahnenarbeit“ wie sie in der westlichen Medizin mittlerweile mehr, wenn auch in anderem „wording“, Anklang findet und in „alten Kulturen“, „first nation people“ in Amerika oder wie in Trinidad und Tobagos afrikanisch-animistischen Philosophien seit jeher ein zentrales Element ist, um Sicherheit im Selbst und der Gemeinschaft zu stiften. Konsequenterweise sind es Kinder und Jugendliche, die Jüngsten einer Gesellschaft, die es vor allem zu schützen gilt, ihnen die Lasten der Vergangenheit abzunehmen, ihnen ein Verständnis und Wissen zu vermitteln, um ein Gefühl von Sicherheit wiederherzustellen, wo tägliche „killings“ drohender wie auch tatsächlicher Verlust, sich verengende Zukunftsperspektiven eine Realität schaffen, die von existentieller Unsicherheit, Schmerz, sich selbst überlassener Wut sowie von Verlassenheits- und Verlorenheitsgeschichten durchzogen sind. Eine Aufgabe, die in den Händen aller Nationen liegt, eine Zusammenarbeit erfordert mit den jeweils bestehenden Möglichkeiten eines jeden Einzelnen im Sinne einer Solidarität und einem Zusammenhalt über tradierte Landesgrenzen hinaus.
Im Petite Valley sitzen wir abends in Bobbys Bar zwischen bunten Lichterketten, Donnerstag ist Karaoke Abend von Sister Ava. Jeder kann zum Mikrofon, singen, rezitieren oder eine Rede halten. Der Künstler, der nach vorne geht, ist in Kostüm gekleidet, anders als jene beim alljährlichen Karneval Februar, jedoch ebenso mit Wirkungskraft. Dieses Jahr wurde der Karneval zum ersten Mal in der Geschichte Port of Spains „angegriffen“, so empfinden es viele hier in den Two Lands. Ein Mann wurde erschossen im Zentrum des Umzuges, und damit im Herzen der Gesellschaft. Der Karneval, bisher ein „sicherer Ort“, unantastbar, war oft begleitet von „killings“, jedoch niemals im Karnevalgeschehen selbst. Eine weitere Erschütterung, ein weiterer Verlust von Sicherheit.
Kwesi Grant lächelt, als der Sänger im Hahnenkostüm seine beherzte sowie amüsante Performance beendet und wir applaudieren. Jetzt gerade ist die Nachbarschaft ruhig, wir trinken entspannt ein Bier in Bobby’s Bar und sprechen nicht über die Dinge, die in anderen Momenten wie eine Wolke aufziehen und der Regenzeit entsprechend Erinnerungen fallen, von Beerdigungen, von Freunden, die gestorben sind, Brüder, Väter, Verwandte, die genommen wurden und nicht wiederkommen. Verlust, eine alltägliche, permanente und omnipräsente Tatsache, ein Umstand, der „sich in Körper und Seele schreibt“ wie Peter Levine es formuliert, Ikone der Traumatherapie in den USA, wo diese nach dem Vietnamkrieg die Grundlagen für die heutige Psychotraumatologie gelegt hatte. Die nächste Performance in Bobbys Bar ist zum Ende gekommen, eine junge Frau hat ein Gedicht über die Gewalt, die sie erlebt hat, vorgetragen und legt nun das Mikrofon zur Seite. Applaus, eine mutige Performance. Kwesi Grant erzählt mir von seinem Leben und warum er versucht, einen Raum zu schaffen mit seinem Food Court neben dem Fußballfeld, wo jede Woche Netball- und Fußballbewerbe für die Kinder und Jugendlichen der Stadt veranstaltet werden. Ein Treffpunkt für Nachbarn, Familien, unterschiedliche Generationen, durch die Musik verbunden, die er laut über die Boxen spielt in einer kurzen Pause von der Härte des Alltags, der Vergangenheit. Namen von Verstorbenen und erinnernde Symbole sind auf seiner Haut tätowiert, mitten drin steht in schwarzen Großbuchstaben geschrieben: „More Life.“.

1 FARC: Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia linksgerichtete Guerilla Gruppe in Kolumbien
 ELN Ejército de Liberación Nacional zweitgrößte Guerilla Gruppe Kolumbiens


2 SHANGO: Die Yoruba in Nigeria und angrenzenden Gebieten verehren einen Geist, den man Donnergott nennt. Er ist der Gott des Blitzes und des Wassers. Shango gilt als Heilsbringer, Glücksbringer und ordnender Geist. (Quelle: Peter Hochsieder, Natur und Mensch, Nürnberg 1996



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